Die Bedeutung der Kathedrale Notre-Dame de Paris für Frankreich und die Franzosen
Notre-Dame de Paris als Nationalsymbol
Der der Gottesmutter gewidmete, im Hochmittelalter und ausgehenden Mittelalter von 1163 bis 1345 erbaute, mächtige Sakralbau Notre-Dame de Paris mit seinen beiden charakteristischen, spitzenlosen Türmen gehört zu den dominierenden Gebäuden auf der Île de la Cité.
Hier im Osten des ältesten Stadtteils von Paris erweckte die Kirche bei vielen Zeitgenossen vor dem Brand den Eindruck von auf ewig in Stein geschlagener Kontinuität Pariser und französischer Geschichte.
Aber ist dieser Eindruck wirklich zwingend oder stellte er nicht eher lediglich die Vorstellung der letzten drei, vier Generationen dar? Um der möglicherweise im Laufe der Zeitläufte Veränderungen unterworfenen Bedeutung von Notre-Dame für die Franzosen auf die Spur zu kommen, ist ein kleiner Blick auf die Geschichte dieses Gotteshaus angezeigt.
Geschichte der Kirche Notre-Dame de Paris
Als Notre-Dame de Paris im Mittelalter ihrer Bestimmung übergeben wurde, bot sie zwar mit einem Fassungsvermögen von etwa 10.000 Personen gut einem Zehntel der damaligen Einwohnerschaft von Paris Platz, ihr Status im französischen Königreich wurde aber von zwei anderen Gotteshäusern übertroffen.
Zum einen von der Basilique de Saint-Denis im nördlich von Paris gelegenen Städtchen Saint-Denis, zum anderen von der Kathedrale Notre-Dame de Reims. Während in Saint-Denis fast alle französischen Könige von Hugo Capet bis Ludwig XVIII. ihre letzte Ruhestätte fanden, wurde Notre-Dame de Paris lediglich als Begräbnisstätte für monarchische Verstorbene der B-Liga wie Prinzen und Prinzessinnen berücksichtigt.
Wie Saint-Denis war auch die Kathedrale Notre-Dame de Reims, die viele Jahrhundert als Krönungskirche diente, Symbol für die französische Monarchie.
Notre-Dame de Paris als kulturelles Gedächtnis Frankreichs
Notre-Dame de Paris hat sich aber dennoch unbedingt die Bezeichnungen „Echolot der Geschichte“ oder auch „kulturelles Gedächtnis Frankreichs“ verdient. Hier fanden immer wieder zentrale Ereignisse der französischen Historie statt. So steht die in Notre-Dame de Paris 1431 vollzogene Krönung des englischen Monarchen Henry VI zum französischen König im engen Zusammenhang mit der während der Zeit des Hundertjährigen Krieges bestehenden kompliziert-komplexen Spezial-Verbindung des englischen Herrscherhauses zu Frankreich. 1455 sorgte ein in Notre-Dame abgehaltener Revisionsprozess für die postume Rehabilitierung der auf dem Scheiterhaufen hingerichteten Nationalheldin Jeanne d'Arc.
Zur Zeit der im darauf folgenden Jahrhundert Frankreich verwüstenden Hugenotten-Kriege ließ sich 1572 der protestantische Navarra-König Henri III, der spätere französische König Henri Quatre, vor Notre-Dame trauen, um nicht an einer katholischen Messe teilnehmen zu müssen.
Symbolträchtig war auch die Dank-Messe, die am Tag nach der Eroberung der Bastille 1789 in Notre-Dame gefeiert wurde. Vier Jahre darauf wurde die Kirche von den Radikalrevolutionären um Robespierre entweiht und zum Tempel der Göttin der Vernunft umgewidmet.
Wieder ein paar Jahre später blies der politische Wind aus einer anderen, nämlich aus der bonapartistischen Richtung: Am 2.12.1804 krönte sich Napoleon Bonaparte in Anwesenheit des deutlich düpierten Papstes selbst zum Kaiser der Franzosen.
Victor Hugo, Charles de Gaulle und François Mitterrand
1831 machte Victor Hugo die Kirche mit seinem inzwischen oft verfilmten historischen Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ („Notre-Dame de Paris“) zu einer der Ikonen der Weltliteratur.
Endgültig zur nationalen Weihestätte wurde Notre-Dame durch Staatsakte im Anschluss an den Ersten Weltkrieg. Und herausragend für Gloire und Grandeur war die am 27. August 1944 in der Kirche von General Charles de Gaulle zelebrierte Dankfeier zum Sieg über die deutschen Besatzer. Zum besonderen Thrill dieser Veranstaltung trug die Tatsache bei, dass de Gaulle und seine Begleitung vor Betreten der Kirche in die Gefahr gerieten, von immer noch in Paris agierenden Heckenschützen beschossen zu werden.
Als für den verstorbenen Präsidenten François Mitterrand 1996 in Notre-Dame die Trauerfeier ausgerichtet wurde, schickten die TV-Kameras das Gesicht eines erklärten Frankreich- und Mitterrand-Freunds, des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, in die Welt hinaus. Die Tränen von Kohl haben damals viel Sympathie ausgelöst und Notre-Dame wohl in Deutschland noch ein Stück bekannter gemacht.
Notre-Dame und das katholische Frankreich
Notre-Dame steht ferner für das spezielle Verhältnis der französischen Gesellschaft zur Religion in einem betont laizistischen Staatswesen auf dem Hintergrund einer zumindest bei weiten Teilen der Bevölkerung gepflegten Anhänglichkeit an den Katholizismus. Dieses spezielle Verhältnis wird unter anderem in einem immobilienrechtlichen Punkt sehr deutlich: Seit 1905 ist Notre-Dame nämlich als Immobilie in Staatsbesitz.
Sinnbildlich für den aktuell so hohen Stellenwert von Notre-Dame ist auch der vor dem Hauptportal eingelassene „kilomètre zéro“ aus Messing, der als Referenzpunkt für die nationalen Entfernungsangaben für Schnellstraßen gilt.
Der Brand
Die bei einem Großteil der Pariser einen mindestens so hohen Stellenwert als hauptstädtisches Identifikations-Sinnbild wie der Arc de Triomphe oder Eiffelturm genießende Kathedrale wurde durch Präsident Macron während des Brandes in ihrer überparteilichen Stellung deutlich bestätigt.
Eigentlich hatte Macron sich am 15. April 2019 via TV an die Nation wenden wollen. In einem lange erwarteten Statement zu den seit Monaten die französische Nation an den Rand der Spaltung bringenden Dauerprotesten der sogenannten Gelbwesten-Bewegung wollte Macron seine politischen Reformpläne darlegen.
Aber der Brand von Notre-Dame verschob die Prioritäten dramatisch. Statt Parteienzanks war jetzt ein gemeinschaftliches Zusammenstehen schlüssig: Der Präsident eilte auf die Île de la Cité. Und die Nation, aus deren Reihen spontan hunderte Millionen Euro für den Wiederaufbau von Notre-Dame gespendet wurden, nahm diese präsidiale Geste wohl mehrheitlich positiv auf.